Sogar der Wecker

Sogar der Wecker

Seit jeher bin ich der Wissenschaft sehr zugetan. Schon als Kind experimentierte ich herum, baute und probierte; elektronisch, mechanisch, chemisch. Schließlich wählte ich zwar kein rein wissenschaftliches, aber zumindest ein ingenieurstechnisches Studium.

Und dann kam mir eine interessante Behauptung zu Ohren, die meine Aufmerksamkeit erregte: Hielt man, so hieß es, einen Wecker in ein Aquarium voller Fische, so würden diese ihren Herzschlag dem Ticken des Weckers anpassen und daraufhin und infolgedessen ihr leben verwirken – also sterben.
Auf den ersten Blick natürlich ein grausames Experiment – möglicherweise auch noch auf den zweiten Blick. Dennoch war meine Neugier geweckt. Ein elektromechanisches Experiment mit einer bio-sozialen Komponente! Warum verhielten sich die Fische so? Lag es am Schwarmverhalten? Wurde der Herzschlag tatsächlich so stark beeinflusst?

Natürlich könnte man jetzt sagen, ein eingehendes Studium von Fachliteratur wäre eventuell eine angemessene Vorbereitung auf einen solchen Versuch gewesen. Vielleicht war das Experiment bereits in der Vergangenheit durchgeführt worden.
Ich sagte mir: Manchmal muss man rennen, bevor man laufen kann!

Ich besuchte also meine Fische. Sie hatten mich sicher schon vermisst, schließlich war ich vor etwa einer Woche das letzte Mal bei ihnen gewesen. Einige von ihnen mochten vielleicht sogar einen gewissen Hunger verspüren – aber schließlich soll Intervallfasten ja gesund sein und sogar für ein längeres Leben sorgen.

Der Wecker in meiner Hand schien für die kleinen Kiemenatmer zunächst nicht weiter von Interesse zu sein. Man konnte sogar beinahe von einer leichten bis mittleren Ignoranz sprechen. Gut – noch war er ja auch nicht eingeschaltet. Vielleicht würden die roten Leuchtziffern ja eher ihre Aufmerksamkeit erregen. Zunächst fehlte es aber noch an einer Verlängerungsschnur. Die Steckdose war leider unglücklich weit vom Aquarium entfernt und das Kabel des Weckers war ärgerlich knapp bemessen. Zwar ließ sich der Zeitanzeige- und Weckapparat auch mit einer 9-Volt-Batterie betreiben, doch befürchtete ich dadurch eine Verfälschung der Testergebnisse. Schließlich ist es oberstes Gebot, wissenschaftlich korrekt zu arbeiten und Fehler und Störungen zu vermeiden, wo es nur geht.

Ich besorgte also ein Verlängerungskabel und mit elektrisierender Vorfreude betrachtete ich, wie die grellroten Ziffern auf dem Display aufflammten. Die Fische nahmen weiterhin keine Notiz von dem für sie in Kürze so immens wichtigen Objekt. Vielleicht reagierten sie hier ja wirklich nur auf akustische Signale. Ich muss gestehen, dass ich selbst zu diesem Zeitpunkt keinerlei Ticken des Uhrwerks vernehmen konnte. Meine Zweifel beruhigte ich mit dem Gedanken, dass Tiere bekannterweise sehr häufig viel sensibler auf ihre Umwelt reagierten als der Mensch.
Um auf Nummer sicher zu gehen, stellte ich noch die korrekte Uhrzeit ein, damit auch die letzte mögliche Fehlerquelle eliminiert wäre. Und, weil mich die elenden blinkenden Nullen einfach nervten.

In mein Laborbuch notierte ich:

„Experiment zur Bestimmung der Reaktion von Süßwasserfischen auf das Einbringen eines Weckers in ihren Lebensraum“

Versuch 1 – 17.11.2020 – 19.30 Uhr

Ich hielt kurz inne und überlegte, auch alle Fischarten aufzuzählen, die sich in diesem Moment im Becken tummelten, beschloss aber, dass ich dies auch nach dem Testdurchlauf nachholen könne.

Und jetzt war es endlich soweit: Ich ergriff den Wecker am Kabel und ließ ihn langsam ins Wasser hinunter. Ich wollte vermeiden, das Wasser mit meiner Hand zu berühren, um keine zusätzliche Störung zu generieren. Der Wecker tauchte in das Wasser ein. Die Spannung stieg ins Unermessliche. Doch just in diesem Moment: Ein Stromausfall! Alles stockfinster. Ausgerechnet jetzt.
Ich tastete mich zum Fenster und sah hinaus. Alle anderen Wohnungen waren hell erleuchtet. Was war da nur los?

Bewaffnet mit einer Taschenlampe hetzte ich zum Sicherungskasten. Tatsächlich! Jemand musste versucht haben, mein Experiment zu sabotieren. Der FI-Schalter war draußen. Na warte, wenn ich den in die Finger kriege…! Aber für Rachepläne war später noch Zeit. Ich klappte den FI wieder nach oben, das Licht ging wieder an und ich eilte zurück zu meinen ichthyoiden Versuchskaninchen.
Als ich das Zimmer betrat, traute ich meinen auch nicht. ALLE TOT! Sogar der Wecker! Entweder das, oder meinen schuppigen Freunden war es in der Zwischenzeit so langweilig geworden, dass sie beschlossen hatten, sich kurz an der Wasseroberfläche hinzulegen. Ich konnte es mir nicht erklären. Es kam mir doch einigermaßen abwegig vor, dass mir jemand den Strom abstellen sollte, um dann heimlich meine Fische zu ermorden – und meinen Wecker! Dass meine Tiere – und mein Wecker – allerdings zufällig alle gleichzeitig einen Herzinfarkt gehabt haben sollten, schien mir nicht minder unplausibel.

Sollte es einen Zusammenhang zu meinem Versuch gegeben haben? War ich etwa einer so brisanten Erkenntnis auf der Spur, dass tatsächlich jemand versuchte, mich aufzuhalten?!
Eines jedoch stand fest: Ich würde mich niemals aufhalten lassen; besonders jetzt nicht mehr!
Mein Wecker sollte nicht umsonst gestorben sein.
In meinem Laborbuch ergänzte ich:

„Versuch 1 durch Stromausfall unterbrochen
möglicherweise Sabotage
neue Fische besorgen
und einen neuen Wecker“

Also auf in den Tierladen. Vielleicht sollte ich den Wecker gleich dorthin mitnehmen…

Anmerkung: Für diesen Text wurden keine Fische verletzt!
… und auch keine Wecker.


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