Konrad war wie jeden Sonntagmorgen früh aufgestanden. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihm, dass ein potentiell perfekter Tag vor ihm lag. Wie jeden Sonntag stand sein Rucksack bereits gepackt neben der Tür, am selben Ort wie immer. Und wie jeden Sonntag machte Konrad sich nach seiner Morgenroutine auf den Weg in den Park.
Die eisige Kälte der Morgenluft bahnte sich schneidend ihren Weg in seine Lunge. Er genoss dieses Gefühl, den leichten Schmerz, der seine Sinne belebte und Körper und Geist erwachen ließ, während zur selben Zeit die schon warmen Strahlen der Morgensonne über sein Gesicht streichelten und seine Seele wärmten.
Ein freudiges Funkeln erhellte Konrads Augen, als er entdeckte, dass sogar seine Lieblingsbank gleich neben dem größeren der beiden Teiche des Parks unbesetzt war. Umgeben von ein paar Sträuchern befand sie sich in optimaler Lage: etwas versteckt, so dass man in Ruhe bleiben konnte, wenn man das wollte und doch offen für das bunte Treiben im Park, wodurch man nach Lust und Laune auch Teil des Geschehens werden konnte, bevor man sich am Ende doch wieder in die Schatten zurückziehen würde.
Konrad stellte seinen Rucksack sorgfältig auf die Bank und nahm neben ihm Platz. Er schloss die Augen und wandte sein Gesicht der Sonne zu, um sich noch einmal von ihr liebkosen zu lassen. Dann seufzte er einmal tief und zufrieden und öffnete schließlich den Reißverschluss seines Rucksacks.
Er besaß den Rucksack bereits seit seiner Jugend. Stets hatte er gut auf ihn geachtet und ihn gepflegt. Dennoch waren ein paar Kratzer und Verletzungen auf dem schwarzen Gewebe im Eifer des Gefechtes manchmal einfach nicht zu vermeiden gewesen. Oben auf lagen seine Brotbüchse und Trinkflasche. Vorsichtig goss Konrad sich einen Tee ein und nahm sich eines seiner akkurat geschmierten und mit Präzision zerteilten Brote heraus. Leberwurst – die hatte er bereits als Kind geteilt, als seine Mutter ihm noch das Frühstück vorbereitet hatte.
Während er in den erinnerungsträchtigen Brotgenuss versank, erforschte sein Blick den sich nun langsam füllenden Park. Konrad mochte es, wie die Menschen sich allmählich auf den Wiesen, Bänken und Spielgeräten verteilten, um wie er das aufkommende schöne Wetter zu nutzen.
Doch an diesem Morgen störte etwas diese idyllische Szene. Ein Mann, den Konrad hier zuvor noch nie gesehen hatte, schlich um den kleinen Pavillon in der Mitte des Parks herum. Es schien fast, als suche er etwas oder vielleicht als erkunde er den Park. Seine fahle Haut, die dünnen, fettigen Haare und sein abgemagerter Körper ließen ihn kränklich wirken. Dazu kamen seine heruntergekommenen Klamotten, die wie Fetzen alter Kartoffelsäcke an ihm herabhingen. Dies alles machte den Mann eindeutig zu einem unwillkommenen Eindringling in dieser sonst so malerischen Morgenstimmung des romantischen kleinen Parks.
In der Hand des ungebetenen Gastes bemerkte Konrad einen alten Leinenbeutel, der eben so viel Leid ertragen haben musste wie die Kleidung. Bei jeder Bewegung gab der Beutelinhalt ein Klappern wie von hartem Metall von sich und als sein Besitzer eine leichte Drehung vollführte, wurde Konrad ein wenig schlecht: Auf der nun sichtbar gewordenen Seite des Beutels offenbarte sich ein riesiger, rotbrauner Fleck. Konrad war sich auf der Stelle sicher, dass es sich dabei um eingetrocknetes Blut handeln musste.
Unwillkürlich wanderte sein Blick für einen Moment auf seinen eigenen Rucksack, doch dann richtete er seine Aufmerksamkeit schnell wieder auf das Geschehen im Park.
Eine Spaziergängerin mit einem Hund kam den Kiesweg entlang. Als sie den Mann passierte, begann das Tier augenblicklich zu knurren und zu bellen. Die Frau wollte sich offenbar dafür entschuldigen, doch als sie in das eingefallene Gesicht ihres Gegenübers sah, blieben ihr die Worte im Halse stecken. Panisch zog sie ihren Hund davon.
In diesem Moment ertönte ein Ruf aus einiger Entfernung: „Papa!“ Der Eindringling wandte sich einem kleinen Mädchen zu, das auf einer der Schaukeln saß. Konrad wunderte sich, dass er sie zuvor nicht bemerkt hatte – normalerweise hatte er die Schaukeln immer besonders gut im Blick. Offenbar war sie die Tochter des Mannes, denn dieser antwortete ihr, sie solle einfach weiter schaukeln. Seine Stimme war rau, heiser und genervt und verstärkte so den ohnehin schon unheilvollen Eindruck seiner Gestalt. Als Konrad sie hörte, schien die Sonne mit einem Mal ihre Wärme verloren zu haben. Etwas zutiefst verstörendes und fremdartiges lag im Tonfall des Fremden. Der bisher so schöne Morgen verkehrte sich auf einen Schlag in eine unerklärliche Düsternis.
Plötzlich drehte der Mann sich um und sah Konrad direkt in die Augen. Konrad erstarrte und ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken. Diese leeren, schwarzen Augen schienen ihn zu durchbohren und ein Ausdruck überwältigenden Hasses verfinsterte das Gesicht des Fremden.
So schnell er konnte duckte Konrad sich hinter einen der Sträucher, sein eigener Herzschlag wummerte ihm in den Ohren.
Nachdem er sich einen Moment gesammelt hatte, tastete er sich vorsichtig zu einer Lücke in den Büschen, durch die er hindurch spähen konnte.
Der Mann war weg! Auch das Mädchen war verschwunden. Nur die Schaukel schwang einsam und trostlos quietschend durch die Morgenluft. Konrad atmete erleichtert aus.
In diesem Moment packte ihn jemand fest von hinten an der Schulter. Instinktiv griff Konrad nach seinem Rucksack und schnellte herum. Direkt vor ihm, nur etwa einen halben Meter entfernt, stand der Fremde und starrte Konrad mit immer noch grimmigem Blick an. Eine Gänsehaut überzog Konrads gesamten Körper und verstärkte sich sogar noch, als der Mann begann, etwas hinter seinem Rücken hervor zu ziehen. Panischer denn je wunderte sich Konrad, dass der Mund des Angreifers plötzlich ein schiefes Lächeln annahm. „Sie haben da was verloren!“, sagte er und hielt Konrads Brotbüchse in der Hand. Mit leichtem Zittern nahm Konrad sie entgegen. Er musste sie vor Schreck fallen gelassen haben. „Danke!“, stammelte er.
Von Weitem hörte man eine Mädchenstimme: „Papa, kommst du?“
„Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Sonntag!“, krächzte der Fremde, drehte sich mit einem Gruß um und ging.
Langsam ließ sich Konrad wieder auf die Bank sinken.
„Ein netter Mann“, dachte er, „Fast schade, dass er nicht bleiben konnte.“ Er grinste in sich hinein. Vorsichtig öffnete er seinen Rucksack. Alles war noch da: der Strick, das Klebeband, das Messer und das weiße Tuch. Und das kleine Glasfläschchen mit der klaren Flüssigkeit. Alles, was er für einen perfekten Sonntag brauchte.
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