Regeln sind wichtig. Sie sorgen dafür, dass wir in einer Gemeinschaft ohne größere Konflikte zusammenleben können. Sie helfen im Kleinen, zum Beispiel als Regeln bei Brettspielen, um Streit, Zwietracht und Testamentsänderungen in der Familie zu verhindern, sowie im Großen als Gesetze, Normen und Standards. Diese werden von uns häufig als lästig empfunden, beispielsweise, wenn mir die gesellschaftlichen Normen (und auch einige Gesetze) nahelegen, es sei keine gute Idee, das Auto meines Nachbarn zu zerkratzen, weil sein Hund schon wieder sein Geschäft in meinem Garten erledigt hat. Lästig! Zumal ich mich ja schon so weit zusammengerissen habe, dass dem Tier selbst nichts passiert ist.
Doch auf der anderen Seite geben Regeln unserem Leben Struktur, ein Handlungsgerüst, das uns sanft durch die Irrungen und Wirrungen des Alltags geleitet. Gerade in unserer hektischen Zeit kann es erholsam sein, sich auf die Vorbestimmung stützen zu können, wenn unsere eigene Kraft zeitweise nicht mehr ausreicht, um den weiteren Lebensweg selbst zu bestimmen.
So traf es sich, dass ich vor nicht allzu langer Zeit auf dem Parkplatz eines Supermarktes, dessen Name hier keine Relevanz besitzt, Zeuge der folgenden Szene wurde, die mich seither nicht mehr loslässt.
Mit beschwingtem Gemüt, nichts Besonderes im Sinn, trat ich an die überdachte Einkaufswagensammelstelle heran. Nur wenige Augenblicke zuvor war dort bereits eine Frau angekommen. Im ersten Moment schien noch alles in Ordnung zu sein, ich wähnte das Universum im Gleichgewicht. Die Frau kramte in ihrem Portemonnaie nach einer Münze oder einem Einkaufschip, mit dem sie der angeketteten Schlange einen Wagen entlocken konnte. Schließlich fand sie das begehrte Objekt, schloss die Geldbörse, hob die Hand, um den Chip in die dafür vorgesehene Öffnung einzuführen und… erstarrte augenblicklich zu Stein.
In ihr Gesicht trat ein Ausdruck des Unverständnisses und des Entsetzens. Plötzlich löste sich ihre Versteinerung und wich einer Art Nervosität. Auch mich ergriff in diesem Moment eine gewisse Unruhe und auch Ratlosigkeit, da ich, mir den Zustand der Einkäuferin zu erklären, nicht im Stande war.
Mir fiel auf, dass ihr Blick immer wieder auf die Ankettvorrichtung des Einkaufswagens fiel und dann panisch hilfesuchend in der Gegend umherirrte. Und dann sah ich das Problem endlich – eigentlich erkannte ich den genauen Konflikt erst nach Abschluss des gesamten Prozesses, aber zumindest fiel mir etwas auf: Der Wagen war nicht angekettet! Er war völlig frei und bereits zur Benutzung. Zwar steckte weder ein Chip noch eine Münze im Schlitz, aber er war auch nicht über eine Metallkette mit dem nächsten Einkaufsgefährt verbunden. Dieser Anblick, diese für sie offensichtlich absurde Situation schien besagte Dame völlig aus der Fassung zu bringen. Ängstlich sah sie sich um, als fürchte sie, jemand könne sie in dieser unerhörten Szene der Anarchie entdecken oder schlimmer noch, am Ende sogar sie für deren Ursprung verantwortlich halten.
Ich beobachtete, wie sie sich zwang, sich zusammenzureißen. Sie sprach sich selbst Mut zu und straffte ihre Haltung und ihr Gesicht.
Naiv wie ich war, hatte ich erwartet, dass sie nun all ihre Skrupel überwinden, den Chip wegpacken und den Wagen aus der Schlange ziehen würde, um ihren Einkauf zu beginnen. Doch dies sollte nicht meine letzte Fehleinschätzung gewesen sein. Noch entschlossener als zuvor hielt sie den Einkaufschip zwischen ihren Fingern.
Na gut, dachte ich, dann steckt sie wohl den Chip aus Gewohnheit und damit sie ihn nicht erst noch zurückpacken muss, doch noch in den Schlitz, nimmt dann den Wagen und beginnt ihren Einkauf. Fehleinschätzung Nummer zwei.
Sie streckte ihre Hand aus, griff nach der Kette des nächsten Wagens und schloss sie an ihren Wagen an. Dann nahm sie den Chip, steckte ihn in den Schlitz ihres Wagens, um die eben eingesteckte Kette wieder zu lösen und den Wagen zu befreien. Erst dann zog sie den Wagen aus der Schlange und begann ihren Einkauf, Mimik und Haltung nun wieder voller Zuversicht. Ein Ausdruck, der sowohl den Triumph über das eben erlebte Chaos als auch dessen völlige Negierung in sich trug.
Schockiert und beeindruckt blieb ich zurück. Vielleicht, dachte ich, ist sie Mathematikerin und wollte die Aufgabe zunächst auf ein bekanntes Problem zurückführen (kleiner Mathewitz am Rande). Aber vielleicht war sie in diesem Moment, wie wir alle zuweilen, auch einfach vom Chaos der Welt überfordert und holte sich als Retter in der Not eine Regel zu Hilfe.
Als ich mich schließlich erholt hatte, war ich zutiefst erleichtert, meinen auserwählten Wagen ordnungsgemäß angekettet vorzufinden.
Ich weiß nicht, ob ich die nötige Kraft
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